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Pressemitteilung 1-20

Jetzt erst recht: Bei eingeschränktem Schulbetrieb infolge der Corona-Krise kann eine außerschulische Lernförderung zur Gewährung von Bildungschancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien besonders geboten sein.

Sozialgericht BRAUNSCHWEIG (Beschluss vom 30. April 2020 - S 43 AS 117/20 ER): Jobcenter muss Kosten für Lernförderung auch übernehmen, wenn diese für einen längeren Zeitraum erforderlich ist.

Der 10-jährige Antragsteller besucht die 4. Klasse einer Grundschule in Braunschweig. Seine Familie und er erhalten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Von Dezember 2017 bis Januar 2020 übernahm das Jobcenter Braunschweig fast durchgehend die Kosten für eine außerschulische Lernförderung in den Fächern Mathematik und Deutsch. Die Leistungen des Schülers wurden im Halbjahreszeugnis mit der Note 4 (ausreichend) bewertet. Die Gewährung weiterer Kosten für die Lernförderung lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, dass keine Versetzungsgefährdung bestehe. Zudem sei eine Lernförderung nur dann zu gewähren, wenn eine vorübergehende Lernschwäche auszugleichen sei. Hier habe die seit Jahren laufende Förderung nicht zu einer wesentlichen Verbesserung geführt, sodass diese ungeeignet sei. Auch die Empfehlung der Grundschule für eine Einzelförderung des Antragstellers im Umfang von jeweils einer Stunde wöchentlich konnte das Jobcenter nicht überzeugen.

Am 17. April 2020 stellte der durch seine Eltern vertretene Schüler beim Sozialgericht Braunschweig einen gerichtlichen Eilantrag mit dem Ziel, das Jobcenter zu verpflichten, ihm weiterhin Leistungen zur Lernförderung in den Fächern Mathematik und Deutsch zu gewähren.

Die 43. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig hat dem Antragsteller vorläufig Recht gegeben und das Jobcenter im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, ihm ab sofort bis zum Ende des Schuljahres Leistungen zur Lernförderung zu gewähren. Die Kammer bejahte zunächst die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung damit, dass das 2. Schuljahr bereits fast zur Hälfte abgelaufen ist und der Abschluss der Grundschule mit Übergang in eine weiterführende Schule kurz bevorsteht. Zudem sieht sie die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Gewährung der begehrten Lernförderung als erfüllt an. Es komme nicht darauf an, ob eine Versetzungsgefährdung besteht. Sinn und Zweck der Regelung in § 28 Abs. 5 SGB II sei die Gewährung gleicher Bildungschancen für schulpflichtige Kinder aus Familien, die von Leistungen der Grundsicherung leben müssen. Dass beim Antragsteller ein Förderbedarf bestehe, zeige sich gerade daran, dass das ausreichende Leistungsniveau erst mit Hilfe der mehrmaligen Lernförderung erreicht werden konnte. Da der Antragsteller bereits unter normalen Umständen Schwierigkeiten habe, den Lernstoff in den Fächern Mathematik und Deutsch zu bewältigen, so die Kammer, sei er bei den derzeitigen erheblichen Einschränkungen des Schulbetriebs aufgrund der Corona-Krise ganz besonders auf die zusätzliche Unterstützung angewiesen.

Die Kammer verweist dabei auf die grundsätzliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010. Das BVerfG hatte darin u. a. entschieden, dass der Bundesgesetzgeber, der mit dem SGB II ein Leistungssystem schaffen wollte, welches das Existenzminimum vollständig gewährleistet, auch dafür Sorge zu tragen hat, dass mit der Grundsicherung auch ein eventuell vorliegender zusätzlicher Bedarf eines Schulkindes auf Lernförderungen hinreichend abgedeckt ist.

Der Beschluss ist unanfechtbar und damit rechtskräftig.

Anmerkung der Pressestelle: Der nur vorläufige Beschluss erging in einem sogenannten Eilverfahren. Die für das Sozialrecht maßgebliche Prozessordnung (Sozialgerichtsgesetz – SGG) sieht für Fälle, in denen ein normaler Verfahrensablauf nicht abgewartet werden kann, die Möglichkeit vor, den Rechtsstreit durch das Gericht vorläufig mittels einer „einstweiligen Anordnung“ zu entscheiden (§ 86b Abs. 2 SGG). Dafür muss die Angelegenheit eilbedürftig sein (Anordnungsgrund) und es muss überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller Recht hat, also einen Anspruch auf die beantragte Leistung (Anordnungsanspruch). Beides hat die Kammer hier bejaht, d.h. das Jobcenter muss erstmal die Kosten für die Lernförderung übernehmen. Es kann aber sein, dass sich später herausstellt, dass die im Eilverfahren nur vorläufig beschlossene Verpflichtung falsch gewesen ist (etwa weil das Gericht wegen der Eilbedürftigkeit nicht alle Umstände umfassend ermitteln und auswerten konnte). Dann müssen die gewährten Leistungen unter Umständen wieder zurückgezahlt werden.

§ 28 Absatz 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II): Bei Schülerinnen und Schülern wird eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen.




Artikel-Informationen

erstellt am:
18.05.2020
zuletzt aktualisiert am:
20.11.2020

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